Cicero und die Neue Akademie

Cicero am Schreibpult. Aus: Cicero, /Epistulae familiares/, Venezia: Hieronymus Scotus 1547. Vor IX i, p. 329

Zu den konstituierenden Mythen der klassischen Rhetorik gehört die Erzählung, dass Philosophie und Redekunst einst zusammengehört hätten und erst einerseits durch die Auswüchse der Sophistik und Eristik, durch Platons antisophistische Polemik und Abgrenzung andererseits zu getrennten, ja verfeindeten Disziplinen geworden seien [Quint. I pr. 13 sq.; cf. Cic. de orat. I 41–73, III 53–62; etc.]. Unabhängig von der modernen Frage, was an dieser Geschichte dran ist (schon einiges, freilich wäre die Entwicklung wesentlich differenzierter zu sehen), gibt es eine zu Unrecht wenig bekannte, für beide Seiten spannende Fortsetzung: in Ciceros Versuch, Philosophie und Rhetorik wieder zu vereinen.

An zahllosen Stellen betont Cicero die Bedeutung gründlicher philosophischer Bildung für den Redner [orat. iv 14–16; xxxiii 118; etc.], an anderen macht er sich über Philosophen lustig, die mit dem Wort nicht umzugehen wissen [Tusc. II ii/iii 6/7; etc.]. Das ist aber weit mehr als Quintilians routiniertes Allgemeinbildungs-Plaidoyer [XII ii] und antiphilosophische Polemik [I pr. 9–17, II xxi 12 sq.]. Im Orator [iii 12] bekennt Cicero nämlich, zum Redner geworden sei er nicht in den Rhetorenschulen, sondern in den Hallen der Akademie — also durch den Unterricht seiner Lehrer Philon und Antiochos.

Zwischen Philosophie und Rhetorik hatte sich ein Graben aufgetan, seitdem der Rhetorik vorgeworfen wurde, sie befasse sich bestenfalls mit dem Wahrscheinlichen, während die Philosophie das Wahre suche. Nach der skeptischen oder besser probabilistischen Lehre der Neuen Akademie (am bedeutendsten von Karneades entwickelt) bleibt die Wahrheit jedoch unerkennbar, nur eine Annäherung an das Wahrscheinliche, an das (wie Cicero sagt) verissimum ist uns möglich. So wird die Philosophie ebenfalls zur Suche nach dem Wahrscheinlichen, sogar die Erkenntnistechnik gleicht sich an, auch die Auffindung des Wahrsten vollzieht sich dialektisch in Rede und Gegenrede. Der Graben schließt sich, beide Disziplinen rücken eng zusammen — im Sinne Ciceros.

Obwohl inzwischen gründlich erforscht, ist dieser wortwörtlich spannungsreiche Schnittpunkt von Philosophie und Rhetorik viel zu wenig bekannt. Ciceros Ansatz hat sich mir bei fortgesetzter Beschäftigung als immer spannender erwiesen, nicht nur, weil er seine wie meine Disziplinen verbindet, sondern auch inhaltlich, weil das Erkenntnismodell der Neuen Akademie von stupender Aktualität und Attraktion scheint. Leider vermag ich im Augenblick der oder dem Interessierten nicht viel Hilfe zu bieten; ich kann nur, als Geheimtip beinahe, wärmstens empfehlen, sich Ciceros philosophische, aber auch rhetoriktheoretische Schriften anzusehen (zunächst wohl den Lucullus, dann Passagen aus dem Orator, De oratore und allen anderen), sowie auf ein mir inzwischen selbst etwas oberflächliches erscheinendes, aber vielleicht nicht ganz nutzloses PDF Papierchen hinweisen, das ich vor Jahren zusammengestellt habe, überwältigt von der ersten Bekanntschaft. Mehr und Besseres vielleicht in ein paar Semestern.

PDF-Dokument Cicero und die Neue Akademie (Kurzfassung),
zuletzt durchgesehen am 18. ii. 2004.

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