Peitho: Deutung und Bedeutung

Soweit die dürren Fakten. Aber Fakten sind an sich schlicht bedeutungsfrei und damit bedeutunglos, Fakten bedeuten etwas immer nur jemandem und damit für jemanden, im Bezug also auf ein ihnen Bedeutung verleihendes Subjekt — denn Interesse, Deutung und Bedeutung gehen vom Subjekt aus, nicht vom Objekt; Fakten bedeuten nur etwas, indem wir sie uns deuten.

Damit bleibt zu klären, was (zumindest mir) an der Gestalt Peithos so unwillkürlich reizend anmutet; dies wäre sicher einen kleinen Essay wert, dessen Skizze ich hier gebe. Selbstredend geht es nicht um eine trocken-philologische Abhandlung, sondern um eine literarische Deutung mit der ihr zustehenden Freiheit. Ich werde sie vielleicht einmal eingehender ausführen; bis dahin sind Rückmeldungen und Gedanken herzlich willkommen (Abschreiben aber oder Klauen gilt natürlich nicht, nur zitieren).

Ansatz

Die Entwicklung von Peithos Bild lässt sich offensichtlich kulturhistorisch parallelisieren mit der Entstehung der klassischen Literaturgattungen, der Entfaltung des griechischen Denkens vom Mythos zum Logos und endlich der Entdeckung einer rational beherrsch- oder zumindest beeinflussbaren emotionalen Macht des Wortes (als Urgrund jeder Rhetorik) überhaupt. Die hierin zu Tage tretende Analogie sollte sich als nicht willkürlich interpretatorisch, sondern als analytisch motiviert erweisen, weil in jeder Epoche Peithos Bewertung und Gestalt das jeweilige Bild von Liebe und Sprache und damit das Selbstbild der Epoche überhaupt nicht allein verkörpert, sondern wesentlich bedeutet; ist doch die Liebesauffassung jeder Gesellschaft Ausdruck der Eigenart und -empfindung dieser Gesellschaft selbst.

In der Epik — mythisch

Bereits wenn wir Peithos ursprüngliche mythische Zuständigkeit betrachten, ist ihre Bedeutung nicht nur für das griechische Denken kaum zu überschätzen: exempli causâ kommt der Troianische Krieg zwar offiziell durch Eris’ Groll bzw. den eitlen Streit der drei Göttinnen zu Stande (falls nicht, noch weiter ab ovo, durch Ledas Ei oder den Zeusplan), aber ohne Peitho hätte Paris Helena kaum überreden können, ihm folgend Menelaos zu verlassen … [z. B. Abb. 1 und 2 in Weizsäckers Artikel]. Gewiss wäre es reizvoll, im Fortgang dieser von den Tragikern begonnenen rückgreifenden Personifikation der Wirkkraft der Liebe die Mythologie — also das Reich der Epik — neu zu betrachten.

Anfänglich wird Peitho wirklich persönlich gedacht, wie alle Gottheiten. Was heißt es, dass die Liebesrede, die ursprünglich sozial bedingt vor allem die Überredung der Frau durch den Mann bedeutet, selbst als Jungfrau personifiziert wird — nicht etwa als liebestoller Gott? Darin scheinen sich (wie die Darstellungen bestätigen) spezifische normative Vorstellungen anzudeuten, die herauszuarbeiten wären. Peitho entspricht bei all ihrem bezaubernden Wesen doch der gesitteten, d. h. von Sitte und Brauch gestatteten Brautwerbung; siehe den Gegensatz zur Gewalt!

In der Lyrik — persönlich

Im nächsten Schritt wäre besonders nach der Bedeutung Peithos bzw. der Liebessprache überhaupt für Sappho (als der ersten subtilen Dichterin der Liebe) sowie für die antike Lyrik allgemein zu fragen. Lyrik als (zumindest in der Antike) persönlichste sprachliche Äußerung steht dem liebenden Geständnis und der liebenden Überredung besonders nahe: Liebeslyrik artikuliert, ja verwirklicht sich überhaupt erst im selben Medium wie diese ihre Themen; also wäre zu klären, ob oder wie diese Gemeinsamkeit von Gegenstand und Medium in der Liebesdichtung aufscheint. Wir müssten uns hier nicht auf die Antike beschränken.

Im Drama — rhetorisch

Als Höhepunkt von Peithos Karriere erscheint wohl die allmähliche Verwandlung von einer Göttin der erotischen Überredung in eine Schutzgöttin der Sophistik. Zwischenstufen sind von beiden Seiten leicht belegbar, bei Gorgias etwa hat die Redekunst ja ein deutlich sinnliches Moment, auch ihre Überzeugungskraft scheint ihm selbst auf der emotionalen Kraft zu beruhren [Helena viii–xiv, über he peitho programmatisch xiii; cf. zur Tragödie Fragment B 23; sowie Thomas Buchheims Einleitung p. xi sqq.]. Diese Beobachtungen verlangen geradezu nach einem Überblick über die Bedeutung und Bewertung der sinnlichen, besonders ›erotischen‹ Momente in der Geschichte der Rhetorik und vice versa über die Bewertung und Entwicklung der liebenden Offenbarung.

In der Philosophie — wiederum Liebe

Über die theurgische Verwendung der Iynx, welche an die (neu-)platonische Deutung der Liebe anknüpft, gelangen wir zur Philosophie sowie zurück zur Liebe, freilich nun zu ihren metaphysischen und mystischen Schwingungen. Gerade in Verbindung mit der ebenso feinsinnigen wie mitunter unsinnigen platonischen Liebesdeutung einerseits sowie mit archaischen Konzepten vom Wesen der Liebe und des Sich-Verliebens andererseits (für beides steht die Iynx) wäre hier einiges zu sagen.

Mehr als kühn, aber zugleich mehr als reizvoll scheint mir eine poetisch-metaphysische Deutung Peithos als Anfang aller Sprache überhaupt mit der ersten Liebe [ich lese die Mythologie als welterklärende (Selbst-)Konstruktion, ähnlich Cesare Pavese in seinen Dialoghi con Leuco]. Das ist zwar reichlich poetisch gedacht [William Goyen spricht davon in seinem House of Breath], erscheint aber auch im Kontext jeder ihrem Gegenstand wirklich angemessenen Liebesphilosophie [wie jener von Roland Barthes] überaus nahe liegend, ja passend. Betrachten wir als Analogie den Mythos vom Daimon Iynx, der bei der Weltentstehung mitwirkt, dann aber zwischen Göttern und Menschen vermittelt wie Eros laut Platons Symposion. Wenn mit jener Welt die Lebenswelt des Menschen gemeint ist, in welcher ja die Liebe als einzige Kraft alle Vermittlung, alles annehmende Verständnis erst begründet und ermöglicht (halb platonisch, halb transzendental gedacht), so ist es auch just diese Liebe, die zwischen Mensch und Mensch vermittelnd ihre Lebenswelt als gemeinsame, Geborgenheit gewährende heimatliche Welt überhaupt erst schafft; und da erst in der com-municatio, in der durch Austausch und Annahme etablierten und erfüllten Gemeinschaft der Mensch sich als Mensch verwirklicht, erweist sich die Liebe als Grund unseres Menschseins, als Bedingung jeder Erfüllung unseres menschlichen Wesens überhaupt.

Bedeutung: zeitlos und zeitig

Das also eine tiefere Interpretation Peithos — was meinen Sie?

Zur Beschäftigung mit Peitho gäbe es damit doppelte Gründe gemäß ihrer doppelten Natur — einen aktuellen Anlass wegen der Tendenzen unseres Kommunikationszeitalters, in welchem die Göttin der Überzeugung gewiss die Gottheit schlechthin abgäbe, zumindest als Emblem [im Sinne Brunos und Bacons] — einen zeitlos wichtigen Grund aber dank der zeitlosen Bedeutung der Liebe, deren sinnstiftender Kraft gerade unsere Zeit bedarf, da sie stark ist, unmittelbar und menschlich, die wirklichste Macht gegen die Entwirklichung in der Virtualität. Solche Götter (die uns Menschen etwas für uns als Menschen lehren) nützen dem Menschen.

Oktober 2002; April 2003

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